Wissenschaftliches Denken & Arbeiten
Wissen und Wissenschaft
Im letzten Kapitel ging es um die Wahrheit, die mit der Wissenschaft und der (objektiven) Realität in direktem Zusammenhang steht. Erst durch die Wissenschaft wird es möglich, soweit es geht, eine gemeinsame Sicht auf die Dinge zu finden. Sie kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, so nah wie möglich an eine zustimmungsfähige und funktionsfähige Wahrheit zu kommen. Das ist ihre Aufgabe und ihr Ziel.
Wissenschaftler bedienen sich daher bestimmter wissenschaftlicher Methoden und Vorgehensweisen (vgl. dazu das Kapitel „Die wissenschaftliche Methode“), um Gegenstände bzw. Phänomene der Umwelt und in unserem Alltag systematisch zu erkennen, mittels Theorien zu erklären und zu interpretieren sowie Regeln aufzustellen (Disterer, 2011, S. 30). Nicht unerheblich ist dabei eine gewisse Neugierde und offene Geisteshaltung - ein sogenanntes Forschungsinteresse - , die Wissenschaftler bzw. Sie als Studierende mitbringen sollten (vgl. Abbildung).

Denkweisen in der Wissenschaft
In der Wissenschaft existieren unterschiedliche Denkrichtungen, was das wissenschaftliche Grundverständnis angeht, also die Herangehensweise an ein Forschungsproblem sowie die jeweilige Methodik. Grundsätzlich werden zwei Positionen voneinander unterschieden: eine realistische und eine konstruktivistische Denkweise (Berger-Grabner, 2010, S. 10f.). Die folgende Grafik gibt dazu einen Überblick:

Die realistische Position betrachtet die Realität als Quelle der Erkenntnis. Wenn wir beispielsweise annehmen, dass nichts existiert, außer die (realen) Gedanken im eigenen Kopf ("Ich denke, also bin.", René Descartes) und alles, was man jetzt tut, nur im Kopf passiert, dann ist dies die Haltung eines Solipsisten (vgl. Solipsismus). Das eigene Ich, und zunächst nur das, das existiert.
Der Positivismus, geprägt von Auguste Comte, ist eine weitere Variante der realistischen Wissenschaftsauffassung (vgl. Positivismus), allerdings ist diese vielmehr der Versuch, Wissenschaft zu betreiben und dabei mittels quantifizierender Methoden (d. h. Messung, Experiment, Beobachtung) zu einer objektiven Erkenntnis zu gelangen. Im Alltag kennt man das: In Umfragen werden Produkte getestet oder Meinungen erfragt; die Ergebnisse werden dann als Beweis und als allgemeingültig angesehen. Die Vorgehensweise ist hierbei verifaktorisch (vgl. Verifikation) und induktiv (vgl. Induktion). Demnach ist es immer möglich, die absoluten Eigenschaften einer Sache empirisch nachzuweisen, also positiv zu demonstrieren, wenn man nur genau genug hinschaut. Das Problem der positivistischen Haltung wird schnell deutlich: Sonderfälle oder seltene Ereignisse werden kaum erfasst und wenig berücksichtigt. Gleichzeitig wurden durch diese Denkweise aber messbare Fakten bedeutsam, es wurde auf theoriegeleitetes und systematisches Arbeiten Wert gelegt (Berger-Grabner, 2010).
Zwischen dem Solipsismus und dem Positivismus liegt der Kritische Rationalismus (vgl. Kritischer Rationalismus), der das Induktionsprinzip kritisiert und grundsätzlich gegenüber 'erkannten' absoluten Wahrheiten skeptisch ist. Karl Popper begründete diese Geisteshaltung und sah die logische Schlussfolgerung sowie das kritische Denken als Grundprinzipien:
- Unsere Welt existiert objektiv und zwar auch dann, wenn wir sie nicht mehr sehen (entgegen dem Solipsismus).
- Theorien sind immer unbeweisbar; dass etwas so ist, wie es ist, kann morgen schon ganz anders sein.
Die konstruktivistische Geisteshaltung beinhaltet, dass unsere Wirklichkeit durch individuelle Einstellungen, Erfahrungen, Prägungen, kulturelle Werte etc. stark beeinflusst und sozial konstruiert ist (Berger-Grabner, 2010, S. 11f.). Alles Wissen und alle Dinge, die wir wahrnehmen, seien demnach stets in unseren subjektiven Erfahrungskontext eingebaut. Menschen nehmen Dinge und Phänomene unterschiedlich wahr; darum gibt es so viele subjektive Wahrheiten, die man mittels Vergleich und Abgleich zu einer intersubjektiven Wahrheit machen kann. Die konstruktivistische Denkweise ist ein Konzept, das verdeutlicht, warum wir unsere Ansichten, unsere Gedankengänge und Argumentationen sowie unsere Quellen und Erkenntnisse transparent machen, dokumentieren und begründen müssen. Die wissenschaftliche Methode ist eine ausgezeichnete Vorgehensweise, eine gemeinsame Sicht auf die Dinge zu finden und sich der Wahrheit soweit wie möglich zu nähern.
Der Relativismus und der Symbolische Interaktionismus sind die beiden bekanntesten Strömungen des Konstruktivismus. Während im Relativismus die subjektiven Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse hervorgehoben werden, thematisiert der symbolische Interaktionismus vielmehr die Interaktion (Kommunikation) und das Zusammenspiel zwischen Personen (Berger-Grabner, 2010, S. 12.).
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Was meint Wissenschaft?
Zunächst meint Wissenschaft all das menschliche Wissen der Erkenntnisse und Erfahrungen einer bestimmten Zeit, das systematisch und strukturiert angehäuft und gesammelt wurde und zu der jeweiligen Zeit gelehrt und weitergegeben wird. Das systematische Erforschen verschiedener Bereiche der Welt und jede intersubjektive überprüfbare Untersuchung (Beschreibung und Erklärung) von Phänomenen machen Wissenschaft aus.
Dabei spielen immer die jeweilige Gesellschaft in der jeweiligen Zeit, deren bereits bestehende Erkenntnisse sowie Einstellungen und Überzeugungen eine wichtige Rolle. Denn genau diese Erkenntnisse, Einstellungen und Überzeugungen spiegeln sich immer in dem jeweiligen Wissen und somit der wahrgenommenen Wahrheit wider (vgl. Abbildung).

Hier ein paar Beispiele für veraltete Erkenntnisse aus verschiedenen Fachgebieten:
- Physik: Newtons Gesetze zur Gravitation galten lange als universales Prinzip. Albert Einstein fand eine bessere Lösung und widerlegte sie bzw. formulierte seine Relativitätstheorie (vgl. Jürgen Paeger über Einsteins Universum, 2017).
- Medizin: Um 1900 und über Jahre hinweg galt Heroin als ein beliebtes Medikament u. a. gegen Husten und Depression; es wurde in Unmengen und als Bestseller in aller Welt frei verkauft (siehe Der Spiegel: Viel Spaß mit Heroin, 2000). Heute ist Heroin eine harte Droge und weltweit illegal; wer es in geringen Mengen besitzt, dem droht eine Freiheitsstrafe (vgl. Betäubungsmittelgesetz).
- Biologie: Darwins Evolutionstheorie war lange zutreffend, doch wird sie durch neue Erkenntnisse widerlegt, durch die Epigenetik (vgl. Süddeutsche Zeitung: Konterrevolution der Darwinisten, 2016).
- Ökotrophologie: Spinat galt lange als außergewöhnlich guter Eisenlieferant und sogar der Seemann Popeye zeigte die Kraft dieses Blattgemüses. Nach aktuellem Wissen ist sein Eisengehalt allerdings eher gering (Spiegel Online, 2007).
Festzuhalten bleibt also, dass wir unsere Theorien immer wieder auf deren Wahrheitsgehalt prüfen, bewerten, gegebenenfalls anpassen und am Ende eine bessere (wahrheitsnähere) Theorie formulieren müssen. Dafür ist es unabdingbar, seinen Wissensstand zum entsprechenden Forschungsgegenstand aktuell zu halten. Dass es hier zu Irrtümern kommen kann, gehört dazu und es muss klar sein: Irrtümer und Versuche sind Quellen neuen Wissens.
- Ein Artikel im Tagesspiegel: Jana Schlüter (29.09.2012) Wenn Weltbilder ins Wanken geraten.
- Ein Lesestück aus Die Welt: Julika Meinert (2014) Anders als gedacht. Diese elf Irrtümer wurden 2014 richtiggestellt.
- Über die Kraft der Spekulation als grundlegende Weise philosophischen Denkens: Whitehead, Alfred North (2001) Denkweisen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
"Knowledge does not keep any better than fish."
[Alfred North Whitehead (1861-1947), britischer Philosoph und Mathematiker]