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Zum Zusammenhang von sozialer Nähe und Lernen

Warum spielt soziale Nähe für Lehrveranstaltungen überhaupt eine Rolle?

Hochschulen sind für Studierende auch Sozialisations-, Erfahrungs- und Lebensräume (vgl. Falkenstern & Walz, S. 41).[1]
Es geht nicht nur darum, Lehrveranstaltungen zu besuchen und zu lernen. Nein, ein wichtiger Teil des Studiums besteht auch aus dem, was drum herum passiert: Die Gespräche vor und nach der Lehrveranstaltung, die gemeinsame Kaffeepause, die Verständigung durch Blicke und Gesten – auch über die Lehrenden, die gerade vor einem stehen – und die man nett oder distanziert finden kann.
Im digitalen Raum sind diese Möglichkeiten geteilter Erfahrungen und gemeinsam erlebter Situationen stark eingeschränkt.
Das kann als Verlust an sozialer Nähe empfunden werden. Und kann auch zu einer Minderung der Lernmotivation beitragen.

Was hat soziale Nähe mit Lernmotivation zu tun?

Eine der bekanntesten Theorien der Motivation ist die Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci & Ryan[2]. Dieser Theorie zufolge gibt es drei angeborene psychologische Grundbedürfnisse des Menschen:
Das Bedürfnis nach Kompetenz oder Wirksamkeit
Das Bedürfnis nach Autonomie oder Selbstbestimmung
Das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit oder Zugehörigkeit
Die Motivation zum Erreichen eines Ziels, z.B. eines Lernziels, ist nach dieser Theorie höher, wenn die Lernenden dabei gleichzeitig ihre psychologischen Grundbedürfnisse befriedigen können – und eines dieser Bedürfnisse ist eben auch das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit oder Zugehörigkeit.
Wenn Sie sich intensiver mit dem Thema "Motivation" auseinandersetzen möchten, schauen Sie sich doch auch noch das folgende Erklärvideo (3:29 Min.) an, in dem die Selbstbestimmungstheorie der Motivation nach Deci & Ryan vorgestellt wird.

Ist soziale Nähe denn wirklich für alle Menschen ein Grundbedürfnis?

Beim Riemann-Thomann-Modell der Kommunikationspsychologie wird davon ausgegangen, dass die vier kommunikationspsychologischen Grundausrichtungen Nähe vs. Distanz und Dauer vs. Wechsel bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.[3]
Es gibt demnach Studierende, denen Nähe sehr wichtig ist: Sie sind durch das erzwungene, isolierte Lernen in ihrer Lernmotivation beeinträchtigt und fühlen sich durch interaktive Lehr-/Lernszenarien stärker motiviert. Daneben gibt es aber auch Studierende, denen Distanz wichtiger ist und die mit der Reduktion sozialer und emotionaler Interaktionen in der Online-Lehre gut zurechtkommen.

Wie ist das bei Ihnen selbst? Prüfen Sie doch mal, wie sich selbst zwischen den Polen Nähe und Distanz, Dauer und Wechsel verorten würden.

Ihre eigene Verortung zwischen den Polen Nähe und Distanz beeinflusst, wieviel Nähe Sie im digitalen Raum intuitiv zulassen, wieviel Distanz Sie intuitiv aufrechterhalten. Es ist deshalb hilfreich, sich selbst seiner eigenen Vorlieben bewusst zu sein und sich klar zu machen, dass an der eigenen Lehrveranstaltung auch Studierende teilnehmen, die ein anderes Nähe-Distanz-Bedürfnis haben. Um dann bewusst - gemeinsam mit den Studierenden - zu entscheiden, wieviel Nähe und Distanz für die Lerngruppe insgesamt passend ist.
"Nach Riemann-Thomann neigen die Menschen vor allem in Herausforderungen dazu, sich ihrem Grundbedürfnis entsprechend zu verhalten. Eine besondere Herausforderung für Seminarleitungen stellt häufig die Gestaltung der ersten Seminarsitzung dar. Daher wird hier am Beispiel der Seminareröffnung der jeweilige Grundtyp einmal „in Reinkultur“ vorgestellt." (Sommer 2008, S. 23f.)

In welcher Vorstellung erkennen Sie sich am Ehesten wieder?

  1. „Mein Name ist (...). Es ist mir gelungen, für unser Seminar diesen Hörsaal zu buchen, damit Sie alle einen guten Blick nach vorne haben. Wir beginnen heute mit der historischen Entwicklung und wissenschaftstheoretischen Einordnung des Themas. Die wichtigste Herausforderung für jeden Forscher liegt doch darin, seinem Forschungsgegenstand mit der gebotenen professionellen Distanz zu begegnen. Nur so lassen sich Strukturen und Systeme analysieren. Redebeiträge und Thesen innerhalb von Diskussionen belegen Sie bitte mit Zitaten und Erläuterungen, auf welche Autoren Sie sich berufen. Selbiges gilt selbstredend auch für Ihre Referate, die Sie bitte eine Woche vorher per E-Mail oder Fax bei mir einreichen. Die entsprechenden Nummern entnehmen Sie dem Vorlesungsverzeichnis oder erkundigen sich im Sekretariat danach.“ (Quelle: Sommer 2008, S. 23)
  2. „Ich darf mich Ihnen vorstellen: (...) mein Name. Diese Veranstaltung gehört zum Teilmodul 2 innerhalb des 3. Moduls. In dieser ersten von 14 Seminarsitzungen stelle ich Ihnen den ausführlichen Plan des Semesters vor. Jede Seminarsitzung gliedert sich dann wiederum in drei Phasen: 1. Vortrag (45 Minuten), 2. Dialog (gesamt: 25 Minuten), 2.1 Fragen (10 Minuten), 2.2. Diskussion (15 Minuten), 3. Vertiefende Übungen (20 Minuten). Die ersten drei Veranstaltungstermine dienen dem Einstieg ins Thema. Die Vorträge werden daher von mir gehalten. In den darauf folgenden 11 Sitzungen werden studentische Referate gehalten und diskutiert. Mögliche Referatsthemen finden Sie im Script auf Seite 8. Wer einen Schein erwerben will wählt eines dieser Themen aus und meldet es bis kommende Woche schriftlich bei mir an. Rückfragen bitte in meiner Sprechstunde mittwochs von 11-12 Uhr. Zur Vorbereitung auf die jeweilige Sitzung bitte ich Sie, die in der Literaturliste angegebenen Texte zu lesen und sich jeweils fünf Fragen zum Text zu überlegen. Sie werden Gelegenheit erhalten, diese hier zu diskutieren und sich die Ergebnisse zu notieren. Zur Erleichterung der Diskussion werde ich jeweils die Redeliste führen. Jede Sitzung beginnt um 10.15 und endet um 11.45. Für ein effizientes Arbeiten sind Regeln erforderlich: die wichtigsten Regeln lauten: ‚Seien Sie pünktlich!’ und ‚Seien Sie vorbereitet!’ Die weiteren Regeln finden Sie im Script auf den Seiten 2-4. Dahinter auf den Seiten 5-7 Anforderungen an Referate und Hausarbeiten. Beide sind termingerecht abzugeben. Bitte halten Sie die Formatvorlagen ein (Seitenzahl, Ränder, Schriftgröße). Zur Prüfungsanmeldung beachten Sie bitte die Paragrafen 12-18 der Bachelorordnung.“ (Quelle: Sommer 2008, S. 23f.)
  3. „Liebe Studentinnen und Studenten, schön, dass Sie da sind. Ich begrüße diejenigen, die schon letztes Semester bei mir waren genauso herzlich wie diejenigen, die jetzt neu in unsere Gruppe gekommen sind. Ich hoffe, dass wir schnell zu einem arbeitsfähigen Team zusammen wachsen, in dem wir intensiv zusammen arbeiten können. Wie ihr seht, habe ich die Tische schon zur Seite geschoben, im Stuhlkreis spricht und lernt es sich doch gleich viel besser. Zum Einstieg machen wir heute eine intensive Vorstellungsrunde, in der alle erzählen wie es ihnen geht und was sie außerhalb der Uni beschäftigt. Schließlich wollen wir uns ja auch menschlich näher kommen. Ihr könnt mich übrigens immer unter meiner Mobilnummer anrufen, wenn Ihr Fragen oder Sorgen habt.“ (Quelle: Sommer 2008, S.24).
  4. "(...) [M]ein Name [ist] (...). Das ursprünglich im Vorlesungsverzeichnis ausgedruckte Thema habe ich geändert, denn inzwischen sehe ich das Thema von einer ganz anderen Seite. Nichts ist so beständig wie der Wandel – gell! Apropos Wandel: Wir werden nicht immer in diesem Raum arbeiten. Wenn ein interessanter Vortrag oder auch ein Film zum Thema läuft, treffen wir uns dann vor Ort, also z. B. auch mal im Kino. Ein Freund von mir hat übrigens gerade einen ollen Dokumentarfilm in der Antarktis gedreht. Ach, das gehört ja jetzt gar nicht zu unserem Thema. Wo war ich stehen geblieben? Wollen wir mal eine Vorstellungsrunde machen – ach nee, vielleicht doch eher ein Rollenspiel? Oder wie wär’s mit einer Stellübung? Hauptsache lebendig!“ (Quelle: Sommer 2008, S.24).
Haben Sie die Vorstellungen den vier Typen zuordnen können? Und sich selbst ein kleines bisschen in der ein oder anderen Vorstellung wiedererkannt?
1. = Distanz
2. = Dauer
3. = Nähe
4. = Wechsel

Und was heißt das jetzt für Ihre Lehre?

  1. Zum Aufrechterhalten der Lernmotivation der Studierenden ist es wichtig, dass diese sich sozial eingebunden fühlen - für den Lernerfolg der Studierenden sind Zeit und Aufwand zur Initiierung und Etablierung sozialer Nähe also gut angelegte Investitionen.
  2. Die Bedürfnisse nach Nähe und Distanz sind bei jedem und jeder Person unterschiedlich stark ausgeprägt. Also: Schließen Sie nicht von sich auf andere. Seien Sie aufmerksam dafür, welche Kommunikationspräferenzen, Bedürfnisse und Ziele die Interaktionsteilnehmenden (inklusive Sie selbst) haben.
  3. Im virtuellen Raum ist die Distanz per se klar im Vorteil - hier müssen Sie also besondere Maßnahmen ergreifen, um soziale Nähe herzustellen. Welche Möglichkeiten Sie hierbei haben, zeigen wir Ihnen in den nächsten Kapiteln.
Eine ausführliche theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff "Soziale Nähe" findet sich in:
Weidlich, Joshua (2021): Presence at a distance:  Empirical investigations toward understanding, modeling, and enhancing social presence in online distance learning environments. [Dissertation. FernUniversität in Hagen]. Online: https://joshuaweidlich.files.wordpress.com/2021/11/weidlich_diss_for_online_title-page.pdf

[1] Falkenstern, Anastasia & Kristina Walz (2020): Hochschulbildung im Spannungsfeld von digitaler Kommunikation und virtuellen Lernumwelten. In: Stanisavljevic, Marija & Tremp, Peter (Hrsg.): (Digitale) Präsenz – Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre. Pädagogische Hochschule Luzern: Luzern, S. 41-44. Online: https://boris.unibe.ch/149835/1/_Digitale__Pr_senz__Stanisavljevic_Tremp.pdf
[2] Deci, Edward L. & Ryan, Richard M.: Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 39 (1993) 2, S. 223-238.
[3] vgl. Sommer, Angela (2008): Beiträge der Hamburger Kommunikationspsychologie zur Seminargestaltung. Praxisbeispiele und Empfehlungen. In: Neues Handbuch Hochschullehre (NHHL),  A 2.3.


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